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Die Insel der Vergessenen

Roman einer suchenden Seele; herausgegeben und übersetzt von Christian Prunitsch; Reihe »Die sorbische Bibliothek«
Der erste Band der Reihe »Die sorbische Bibliothek«. Dieses zwischen 1918 und 1924 entstandene Werk steht am Übergang der sorbischen Literatur in die Moderne. In einer Mischform aus Tagebuchaufzeichnung, Essay, Skizze, oft mit lyrischer Einfärbung, wird die Geschichte des Helden Jakub Zalěski, der schon namentlich auf den Autor verweist, auf seinem Weg zur Selbstfindung dargestellt.

Beschreibung

»Das Nachwort ist zugleich eine erste Einführung in die Literatur der sorbischen Moderne, die auf weitere Texte neugierig macht. Die neue Übersetzerreihe des engagierten sorbischen Verlags, der weite Verbreitung zu wünschen ist, lässt auf literarische Entdeckungen hoffen.« (Wolfgang Keßler in: Miteilungen der Arbeitsgemeinschaft der Bibliotheken und Dokumentationsstellen der Ost-, Ostmittel- und Südosteuropaforschung)

Leseprobe

Die letzte Stunde

Silvester. Es schlägt elf Uhr. Ich stehe auf der letzten Stufe einer hohen Treppe irgendwo im Nichts ... Kalt weht der Wind hier, er zerrt mir den Mantel von den Schultern. Mir ist unheimlich hier oben ganz allein, mich schwindelt. Ich taste nach dem Geländer, aber meine Hand greift ins Leere, rechts und links Abgründe, schwarze Finsternis, und aus ihr ragen Knochenhände, die mich packen und hinabstürzen wollen. Und was sehe ich vor mir? Worauf werde ich treten, wenn ich einen Schritt weiter tue? Ist das fester Boden, worauf ich gleich meinen Fuß setze? Ich reiße die Augen auf, die vergeblich etwas zu erkennen suchen. Was ist das, was sehe ich da vor mir? Wahrhaftiger Gott! Das ist, das ist: nichts! Das ist nicht Erde, nicht Himmel, nicht Licht und nicht Dunkel. Manchmal nur kommt es mir vor, als sei der Boden vor mir ein feiner Rauch oder ein Nebel, wie er zuweilen in der Dämmerung über der Erde wabert und sich in dünnen Schnüren um die Sträucher legt. Manchmal meine ich in unendlicher Ferne ein goldenes Glitzern in der Luft auszumachen, als schickte die Sonne, irgendwo hinter dicken Wolken ihre Bahn ziehend, ein gebrochenes Licht zu mir ... Ich ziehe mir den Mantel fester um die Schultern, weil ich vor Kälte zittere und weil mir ist, als fassten unsichtbare Hände nach meinem Mantel, die mich weiterziehen, dorthin, wo mich das Grauen umfängt, wo ich mich keinen Schritt weiter wage ...
Nein, nein, nicht weiter, da vorn ist vielleicht alles zu Ende, lauert die Unsicherheit, droht der Untergang! Nein, nein, so weit, wie ich gegangen bin, kenne ich mich doch aus; das ist ja meine Welt, die Zukunft aber ist für mich ... nichts, weil ich nicht weiß, was sein wird. –
Plötzlich wende ich mich in meiner Angst um und will die Stufen wieder hinuntersteigen in meine Welt, die ich kennen gelernt habe und in der ich es so schön haben könnte, inmitten von allem, was Bestand hat.
Doch weh mir! Ich hatte nicht bemerkt, dass sich jede Stufe, sobald ich den Fuß auf die nächsthöhere gesetzt hatte, hinter mir in der Tiefe verlor. Ich hatte es nicht bemerkt, weil ich, plaudernd mit meinen Nachbarn zur Linken und zur Rechten, heiteren Sinnes, froh und hoffnungsvoll nur dem Augenblick gelebt hatte. Und es ging doch so leicht und unbeschwert die Treppe hinauf!
Ja, weh mir! Die Treppe hinter mir ist verschwunden. Hier gibt es kein Zurück mehr. Stattdessen sehe ich dort nur zarte Hände, die mir mit Tüchern zum Abschied winken, ich höre sanfte Stimmen von dort, die mir liebe Worte zuraunen, zurufen, aber von so weit, weit weg! Oder war das nicht ein fernes, ersticktes Weinen? Da, schon wieder! War das nicht ein heftiges Aufschluchzen? Aber nein doch, ich täusche mich ganz gewiss! ...
Wie dieser eisige Wind an meinem Mantel reißt! – Hu, wie kalt! Und als übte irgendwo da vorn ein Magnet seine geheimnisvolle Macht auf mich aus, zieht es mich gewaltsam immer weiter. – Aber Gott, wie könnte ich denn! Hier ist doch kein Boden, kein Grund, auf dem ich stehen könnte ... Das Auge sucht die Finsternis zu durchdringen, aber vergeblich – nichts ist zu sehen! Auf einmal ist mir so merkwürdig. Als wären meine Augen verschwunden. Meinetwegen, was helfen schon Augen im Kopf, wenn doch nichts zu sehen ist! „Ach, was sind das für zwei helle Kerzen dort vor mir!“, rufe ich unwillkürlich und sehe – nein, das stimmt nicht, wenn ich sage – ich sehe, nein, mein Geist, mein geistiges Auge nimmt diese Kerzen wahr. Mein Geist erkennt, dass diese Kerzen meine Augen sind. Sie blicken mich ganz ausdruckslos an, wie zwei Fenster aus einer weinumrankten Hütte.
Ich atmete auf! Das war doch etwas, woran ich mich halten konnte. Ich fühlte mich nicht mehr allein in der Unendlichkeit. Auch die Kälte empfand ich nicht mehr, so als würden mich diese beiden Kerzen wärmen. Unentwegt starre ich sie, waren sie doch das Einzige, was es in dieser toten Gegend um mich herum gab.
Je länger ich mich in diese Kerzen versenkte, desto heller und tiefer wurde ihr Licht. Nach einer Weile wurde es so strahlend und rein, dass ich durch sie hindurchsehen konnte wie durch zwei Fenster. Und welch seltsames, welch geheimnisvolles Bild eröffnete sich mir hinter den Scheiben dieser Fenster, die wie zwei Sterne in der Unendlichkeit schwammen!
Im linken Fenster funkelte das klare Wasser eines Sees, über ihm spannte sich blauer Himmel. Graue Bachstelzen und Schwalben flogen über dem Wasser dahin. In Booten fuhren ausgelassene Mädchen und Jungen, alle mit einem sonnigen Lächeln auf den frischen Wangen. Unter den Bäumen am Seeufer spielten Kinder Fangen wie weiße und bunte Schmetterlinge. Freude, Fröhlichkeit und zarte Musik atmete diese Seelandschaft ...
Im rechten Fenster aber war ein weites, endloses Meer zu sehen, über dem schneeschwere Wolken dahinjagten; große Eisschollen trieben auf gischtigen Wogen vom Ufer fort. Und nur ein schmales Steilufer trennte den sonnigen See vom eisigen Meer. Am Strand schwankte als einziger Baum eine Trauerweide im Sturm. Dort stand, den rechten Ellbogen an den Stamm gelehnt, ein Mann, offenbar noch jung, den Kopf unbedeckt, die Finger ins Haar gewühlt, von verzweifeltem Weinen geschüttelt. Sehnsüchtig wandte er sein Gesicht dem blauen See zu, lange, lange, in tiefer Versunkenheit. – Doch sieh da! plötzlich gab er sich einen Ruck und sprang behände auf eine Eisscholle ins stürmische Meer. Und die Scholle, auf der er wie aus Stein gehauen stand und mit ruhigem Gesicht über die endlose Wasserfläche blickte, entfernte sich immer weiter vom Ufer. Und noch einmal wandte die Gestalt sich mit unbeschreiblich traurigem Blick zurück. Jetzt bot sich mir die Gelegenheit, ich sah ihr geradewegs ins Gesicht. Ich sah hin, noch einmal, und erschrak zu Tode! Ich hatte sie erkannt – ja, ich hatte in ihr erkannt – mich ... mich selbst ...
1. 1. 1918

Zusatzinformation

ISBN 978-3-7420-1889-2
Sprache des Artikels Deutsch
Bibliografische Angaben 2000
160 S., Hardcover mit Schutzumschlag
Thema Die sorbische Bibliothek

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Beschreibung

»Das Nachwort ist zugleich eine erste Einführung in die Literatur der sorbischen Moderne, die auf weitere Texte neugierig macht. Die neue Übersetzerreihe des engagierten sorbischen Verlags, der weite Verbreitung zu wünschen ist, lässt auf literarische Entdeckungen hoffen.« (Wolfgang Keßler in: Miteilungen der Arbeitsgemeinschaft der Bibliotheken und Dokumentationsstellen der Ost-, Ostmittel- und Südosteuropaforschung)

Leseprobe

Die letzte Stunde

Silvester. Es schlägt elf Uhr. Ich stehe auf der letzten Stufe einer hohen Treppe irgendwo im Nichts ... Kalt weht der Wind hier, er zerrt mir den Mantel von den Schultern. Mir ist unheimlich hier oben ganz allein, mich schwindelt. Ich taste nach dem Geländer, aber meine Hand greift ins Leere, rechts und links Abgründe, schwarze Finsternis, und aus ihr ragen Knochenhände, die mich packen und hinabstürzen wollen. Und was sehe ich vor mir? Worauf werde ich treten, wenn ich einen Schritt weiter tue? Ist das fester Boden, worauf ich gleich meinen Fuß setze? Ich reiße die Augen auf, die vergeblich etwas zu erkennen suchen. Was ist das, was sehe ich da vor mir? Wahrhaftiger Gott! Das ist, das ist: nichts! Das ist nicht Erde, nicht Himmel, nicht Licht und nicht Dunkel. Manchmal nur kommt es mir vor, als sei der Boden vor mir ein feiner Rauch oder ein Nebel, wie er zuweilen in der Dämmerung über der Erde wabert und sich in dünnen Schnüren um die Sträucher legt. Manchmal meine ich in unendlicher Ferne ein goldenes Glitzern in der Luft auszumachen, als schickte die Sonne, irgendwo hinter dicken Wolken ihre Bahn ziehend, ein gebrochenes Licht zu mir ... Ich ziehe mir den Mantel fester um die Schultern, weil ich vor Kälte zittere und weil mir ist, als fassten unsichtbare Hände nach meinem Mantel, die mich weiterziehen, dorthin, wo mich das Grauen umfängt, wo ich mich keinen Schritt weiter wage ...
Nein, nein, nicht weiter, da vorn ist vielleicht alles zu Ende, lauert die Unsicherheit, droht der Untergang! Nein, nein, so weit, wie ich gegangen bin, kenne ich mich doch aus; das ist ja meine Welt, die Zukunft aber ist für mich ... nichts, weil ich nicht weiß, was sein wird. –
Plötzlich wende ich mich in meiner Angst um und will die Stufen wieder hinuntersteigen in meine Welt, die ich kennen gelernt habe und in der ich es so schön haben könnte, inmitten von allem, was Bestand hat.
Doch weh mir! Ich hatte nicht bemerkt, dass sich jede Stufe, sobald ich den Fuß auf die nächsthöhere gesetzt hatte, hinter mir in der Tiefe verlor. Ich hatte es nicht bemerkt, weil ich, plaudernd mit meinen Nachbarn zur Linken und zur Rechten, heiteren Sinnes, froh und hoffnungsvoll nur dem Augenblick gelebt hatte. Und es ging doch so leicht und unbeschwert die Treppe hinauf!
Ja, weh mir! Die Treppe hinter mir ist verschwunden. Hier gibt es kein Zurück mehr. Stattdessen sehe ich dort nur zarte Hände, die mir mit Tüchern zum Abschied winken, ich höre sanfte Stimmen von dort, die mir liebe Worte zuraunen, zurufen, aber von so weit, weit weg! Oder war das nicht ein fernes, ersticktes Weinen? Da, schon wieder! War das nicht ein heftiges Aufschluchzen? Aber nein doch, ich täusche mich ganz gewiss! ...
Wie dieser eisige Wind an meinem Mantel reißt! – Hu, wie kalt! Und als übte irgendwo da vorn ein Magnet seine geheimnisvolle Macht auf mich aus, zieht es mich gewaltsam immer weiter. – Aber Gott, wie könnte ich denn! Hier ist doch kein Boden, kein Grund, auf dem ich stehen könnte ... Das Auge sucht die Finsternis zu durchdringen, aber vergeblich – nichts ist zu sehen! Auf einmal ist mir so merkwürdig. Als wären meine Augen verschwunden. Meinetwegen, was helfen schon Augen im Kopf, wenn doch nichts zu sehen ist! „Ach, was sind das für zwei helle Kerzen dort vor mir!“, rufe ich unwillkürlich und sehe – nein, das stimmt nicht, wenn ich sage – ich sehe, nein, mein Geist, mein geistiges Auge nimmt diese Kerzen wahr. Mein Geist erkennt, dass diese Kerzen meine Augen sind. Sie blicken mich ganz ausdruckslos an, wie zwei Fenster aus einer weinumrankten Hütte.
Ich atmete auf! Das war doch etwas, woran ich mich halten konnte. Ich fühlte mich nicht mehr allein in der Unendlichkeit. Auch die Kälte empfand ich nicht mehr, so als würden mich diese beiden Kerzen wärmen. Unentwegt starre ich sie, waren sie doch das Einzige, was es in dieser toten Gegend um mich herum gab.
Je länger ich mich in diese Kerzen versenkte, desto heller und tiefer wurde ihr Licht. Nach einer Weile wurde es so strahlend und rein, dass ich durch sie hindurchsehen konnte wie durch zwei Fenster. Und welch seltsames, welch geheimnisvolles Bild eröffnete sich mir hinter den Scheiben dieser Fenster, die wie zwei Sterne in der Unendlichkeit schwammen!
Im linken Fenster funkelte das klare Wasser eines Sees, über ihm spannte sich blauer Himmel. Graue Bachstelzen und Schwalben flogen über dem Wasser dahin. In Booten fuhren ausgelassene Mädchen und Jungen, alle mit einem sonnigen Lächeln auf den frischen Wangen. Unter den Bäumen am Seeufer spielten Kinder Fangen wie weiße und bunte Schmetterlinge. Freude, Fröhlichkeit und zarte Musik atmete diese Seelandschaft ...
Im rechten Fenster aber war ein weites, endloses Meer zu sehen, über dem schneeschwere Wolken dahinjagten; große Eisschollen trieben auf gischtigen Wogen vom Ufer fort. Und nur ein schmales Steilufer trennte den sonnigen See vom eisigen Meer. Am Strand schwankte als einziger Baum eine Trauerweide im Sturm. Dort stand, den rechten Ellbogen an den Stamm gelehnt, ein Mann, offenbar noch jung, den Kopf unbedeckt, die Finger ins Haar gewühlt, von verzweifeltem Weinen geschüttelt. Sehnsüchtig wandte er sein Gesicht dem blauen See zu, lange, lange, in tiefer Versunkenheit. – Doch sieh da! plötzlich gab er sich einen Ruck und sprang behände auf eine Eisscholle ins stürmische Meer. Und die Scholle, auf der er wie aus Stein gehauen stand und mit ruhigem Gesicht über die endlose Wasserfläche blickte, entfernte sich immer weiter vom Ufer. Und noch einmal wandte die Gestalt sich mit unbeschreiblich traurigem Blick zurück. Jetzt bot sich mir die Gelegenheit, ich sah ihr geradewegs ins Gesicht. Ich sah hin, noch einmal, und erschrak zu Tode! Ich hatte sie erkannt – ja, ich hatte in ihr erkannt – mich ... mich selbst ...
1. 1. 1918

Zusatzinformation

ISBN 978-3-7420-1889-2
Sprache des Artikels Deutsch
Bibliografische Angaben 2000
160 S., Hardcover mit Schutzumschlag
Thema Die sorbische Bibliothek